Ida - Teil 1


Ida hatte ihr Zuhause noch nie für längere Zeit verlassen. Ihre Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof und Urlaube waren ähnlich rar gesät wie gemeinsame Zeit mit ihren Eltern. Aber Ida machte das nichts aus, sie liebte es, am Nachmittag allein im Wohnzimmer am Kachelofen zu sitzen oder im Sommer unter der großen Kastanie und zu lesen.
Wenn die anderen aus ihrer Klasse nach den Sommerferien von ihren Urlauben erzählten, schwieg Ida. Sie war auch an fremde Orte gereist - Marrakesch und Damaskus und New York und Paris und Warschau. Aber nur mit ihren Büchern, sie hatte noch niemals in einem Flugzeug gesessen. Ihre weiteste Reise hatten sie vor zwei Jahren nach München unternommen als sie Max besucht hatten, ihren Patenonkel. Ida dachte mit Abscheu daran zurück. Nicht wegen Max, den konnte sie gut leiden, weil er ihr nicht nur zum Geburtstag und zu Weihnachten tolle Bücher schenkte, sondern sie auch während des Jahres mit Nachschub versorgte. Aber die Stadt… die laute und stinkende Stadt, nein, die hatte ihr nicht gefallen. Und überall diese Menschen, die an ihr vorbeirannten als seien sie auf der Flucht vor dem Mathetest. Ida schüttelte sich und schlug ein Buch auf. Es war November, ihr Lieblingsmonat. Der Kachelofen wurde schon am Nachmittag eingeschürrt, die Sonne versteckte sich regelmäßig im Hochnebel, es regnet dafür oft und manchmal schneite es sogar schon. Jetzt fiel es keinem mehr auf, wenn sie nur Zuhause saß und las - im Sommer hatten ihre Eltern oft versucht, sie dazu zu bringen, ins Freibad zu gehen oder zu einer Freundin. Welche Freundin? wollte sie ihre Eltern dann fragen. Es gab doch nur sie und ihre Bücher. Aber Ida schwieg, denn ihre Eltern hatten genug Sorgen mit dem Hof - sie brauchten nicht noch zusätzliche Sorgen.