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Es werden Posts vom Juli, 2021 angezeigt.

Buch II

  Sie schlug das Buch zu und zum ersten Mal seit Stunden sah sie sich im Zimmer um. Sah auf die Uhr auf ihrem Nachttisch, die schon weit nach Mitternacht anzeigte. Aber welchen Tages? Denn die Pflanzen auf ihrem Fensterbrett, die sie tagtäglich hegte und pflegte, waren vertrocknet. Über ihrem Bett hingen Spinnweben und das Essen, also das, was vorher einmal die Reste einer Pizza gewesen waren, lag auf ihrem Teller als eine grüne Masse, übersät mit Maden. "Was zum Teufel…", murmelte sie und warf das Buch zur Seite. Staub siegt auf, reizte ihre Nase und sie nieste. Überall lag eine dichte Staubsicht. Sie fuhr sich durch die Haare, die ihr fast bis zum Bauchnabel reichten. Zum Bauchnabel! Sie hatte doch nur kinnlanges Haar, zu kurz, um daraus einen Zopf zu bingen. Ihr Herz schlug noch schneller nachdem sie ihre Hände betrachtet hatte: Ihre Fingernägel waren so lang, dass selbst Freddy Krüger neidisch werden würde. "Verdammt", murmelte sie erneut. "Was ist da

Mucke am Mittwoch - Nina Simone - Feeling good

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  Bis 2021 hat es gedauert bis ich Nine Simone entdeckt habe. Und dann hat sie mich nicht mehr losgelassen.

Buch I

  Sie traute sich schon gar nicht mehr, ein Buch aus ihrem Regal zu ziehen. Denn in den letzten Tagen, ja, inzwischen dauerte es schon über eine Woche an, war es ihr nicht mehr möglich gewesen, zu lesen. Sie zog eines ihrer vielen Bücher aus dem Regal, Bücher, die sie seit Jahren begleiteten und ihr in jeder noch so schwierigen Lage ein Ratgeber gewesen waren, besser als mancher Freund. Aber wenn sie das Buch öffnete, dann sah sie: Nichts. Die Seiten waren leer. Weiß. Nicht ein einziger Buchstabe war zu sehen, noch nicht einmal die Seitenzahl. Sie hatte ihre Freundin gebeten, sich eines der Bücher zu nehmen und daraus vorzulesen. Ihre Freundin hatte gelacht, aber sie war ihrer Bitte nachgekommen. "Die Grasharfe" von Truman Capote – und sie hatte ihre Lieblingsstelle vorgelesen. Danach hatte sie ihr das Buch in die Hand gedrückt und gelacht. "Zufrieden?", hatte sie gefragt und war in die Küche gegangen, um das Abendessen vorzubereiten. Nein, sie war nicht zufri

Tür IV

  Wann immer sie an der Tür zwei Stockwerke unter ihrer Wohnung vorbei ging, blieb sie kurz stehen und schnüffelte. Sie musste jedes Mal dabei über sich selbst lachen, aber sie konnte nichts dagegen tun. Einmal hatte sie der Nachbar von gegenüber erwischt und sie hatte so getan als suche sie dringend etwas in ihrer Handtasche. Aber was war schon dabei, wenn sie einfach nur riechen wollte? Denn jedes Mal roch es anders aus dieser Wohnung. Nach gebrannten Mandeln, nach Erde auf die gerade Regen gefallen ist, nach Wald und Pilzen, nach dem Atlantik, nach Zuckerwatte und Autoscooter und einmal sogar noch Schnee. Wer in der Wohnung lebte, wusste sie nicht – sie hatte ihn noch nie gesehen. Aber das war nicht ungewöhnlich, schließlich wohnten sie in einem Hochhaus in einer der größten deutschen Städte. Es war schon ein Glück, wenn man genau den Nachbarn kannte, der neben einem wohnte und ab und an mal ein Paket annahm. Heute blieb sie wieder vor der Tür stehen und nahm einen ganz besonder