Emma & Raja - Eine Weihnachtsgeschichte

 

Raja

Es ist noch dunkel als ich die Augen öffne. Jeden Tag wache ich vor dem Wecker auf, das ist gut, denn so wecke ich Amira nicht. Ich bin froh, wenn sie schläft – jede Stunde ist kostbar. Mittlerweile schläft sie wieder durch, sie träumt nicht mehr jede Nacht von den Bomben oder den Tagen auf dem Schlauchboot oder unserer Zeit in Moria. Ich rolle mich zur Seite und schalte den Wecker aus. Es ist 4 Uhr morgens und ich gestatte mir, noch ein paar Minuten liegen zu bleiben. In Damaskus musste ich auch oft früh aufstehen, die Schichten im Krankenhaus wechselten ständig und es war egal, dass ich ein Kind Zuhause hatte und keinen Mann. Hier, in Deutschland, habe ich nur noch Frühschicht, aber ich arbeite nicht mehr im Krankenhaus. Ich gehe putzen.

 

Emma

Heute ist Heilig Abend und es regnet. Ich überlege gar nicht erst, ob ich das Laufen bleiben lasse – bei Regen ist es besonders schön, weil dann nicht so viele andere Jogger im Englischen Garten unterwegs sind. Ich kann meinen Kater rauslaufen, gestern hatten wir Hochzeitstag und ich hatte wohl ein Glas zu viel von dem Wein. Mein Mann liegt noch im Bett, er hat heute schon frei. Aber er arbeitet auch nicht in einer Kanzlei so wie ich. Ich habe nie frei, selbst dann nicht, wenn ich Urlaub habe.
Ich laufe meine übliche Runde, dusche und rufe mir ein Taxi. Normalerweise radel ich ins Büro, aber ich will den riesigen Blumenstrauß mit nach Hause nehmen, den mir mein Mann gestern geschenkt hat und der so groß ist, dass ich ihn nicht mit dem Fahrrad transportieren kann. Ich weiß, dass Heilig Abend und Silvester die arbeitsreichsten Tage in einer Kanzlei sind. Die Mandanten fürchten den Stillstand über die Feiertage genauso wie wir. Weihnachtsfrieden, den mag es früher einmal gegeben haben, aber das ist lange vorbei.

 

Raja

Es ist in Ordnung, dass ich putzen gehe. Das rede ich mir jeden Morgen ein, wenn ich unter der Dusche stehe und auf meine Hände schaue. Meine Hände waren einmal mein Kapital, ich habe sie geschont und gepflegt, denn mit ihnen habe ich Tumore entfernt an Stellen, an die sich sonst keiner getraut hat. Ich war gut darin, besser als die Männer in meinem Krankenhaus. Das war wohl einer der Gründe, warum ich noch so lange arbeiten durfte, obwohl mein Mann gegen Assad auf die Straße gegangen ist. Ich durfte sogar noch arbeiten, nachdem ihn die Geheimpolizei abgeholt hat. Aber ich wusste in dem Moment, in dem ich die ersten Wunden versorgen musste, die durch Bomben verursacht worden waren, dass Amira und ich nicht mehr lange sicher sein werden. Wenn uns nicht auch die Geheimpolizei holt, dann wird einer der russischen oder türkischen oder amerikanischen Angriffe dafür sorgen, dass wir sterben.

Jetzt ist die Haut an meinen Händen aufgerissen und rau und meine Finger werden immer unbeweglicher. Aber sie bringen trotzdem Geld, diese Hände, durch sie habe ich es geschafft, ein wenig zur Seite zu legen – deshalb kann ich heute Amira zu ihrem Geburtstag einen Anorak schenken. Er ist gebraucht, aber er schaut aus wie neu. Dafür habe ich fast einen Monat lang auf mein Mittagessen verzichtet. Ich wünsche mir so sehr, dass ich ihr mehr schenken könnte – die Bluse, die sie letztens im Schaufenster bewundert hat oder eines der Bücher, die sie im Hugendubel in der Hand hatte. Aber es ist ein Anorak und das ist besser als nichts.

 

Emma

Es hat aufgehört zu regnen als ich um 8 Uhr ins Taxi steige. In der Kanzlei wird es ruhig sein, es werden nur die üblichen Verdächtigen da sein: Die, die keine Familie haben und denen die Arbeit alles ist oder die, die eine Familie haben, aber in der freien Zeit plötzlich nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Familie machen sollen. Ich weiß, dass ich zu viel arbeite. Aber ich will Partner werden in dieser Kanzlei und das ist als Mann schon schwierig, aber als Frau doppelt, wenn nicht dreifach so schwer. Mein Chef hatte schon die Augenbrauen hochgezogen nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich heirate. Er gratulierte mir zwar, aber der nächste Satz lautete: „Jetzt wo du geheiratet hast, willst du sicherlich auch Kinder bekommen. Überleg dir das gut – es gibt hier keine Karriere mit Kind.“

Ich habe nicht so lange studiert und promoviert, um schließlich als Associate nur noch die Fälle zu bearbeiten, die nichts einbringen.

Ich gehe an den Büros vorbei, die Zimmer der Assistentinnen sind bis auf wenige Ausnahmen leer, die der Juristen natürlich nicht. Heute arbeite ich nur bis Mittag, das habe ich gestern meinem Mann versprochen. Nur noch diesen einen Schriftsatz und dann nehme ich den wundervollen Blumenstrauß und fahre nach Hause. Während mein Mann kocht, werde ich die E-Mails beantworten, die noch eintrudeln werden und mein Handy erst zum Abendessen ausschalten.

 

Raja

Die erste Station ist wie jeden Morgen die Kanzlei. Ich bin gespannt, auf wie viele Menschen ich heute treffen werde. Es ist immerhin Heilig Abend und in Amiras Klasse waren alle Kinder sehr aufgeregt, weil sie heute Weihnachten feiern. Ich glaube nicht mehr, weder an das Gute in den Menschen noch an Wunder, nicht nachdem, was meinem Mann in Damaskus und uns in Moria passiert ist.

Es ist inzwischen 5 Uhr, noch immer stockdunkel und es wird die nächsten Stunden auch noch so bleiben. Manche dieser Menschen, die hier arbeiten, scheinen in diesen Büros auch zu wohnen. Heute Morgen sind noch alle Zimmer leer. Auf dem Weg zu der Kammer, in der unsere Putzwägen stehen, komme ich an einem Zimmer vorbei, in dem ein riesiger Blumenstrauß steht, der so sehr duftet, dass es bis auf den Gang zu riechen ist. Wer lässt denn so einen Strauß hier stehen? Ich betrete das Zimmer und schalte das Licht an. Der Schreibtisch ist aufgeräumt, nicht ein winziges Fitzelchen Papier zu sehen. Nur dieser Strauß, der so wunderschön ist, dass es fast weh tut. Riesige Lilien in rosa und weiß – das sind Amiras Lieblingsblumen. Ich sehe mir noch einmal den Schreibtisch an: Derjenige, dem der Blumenstrauß gehört, ist schon im Urlaub. Warum nur hat er ihn hier stehen lassen? Wie kann man so einen Strauß vergessen? Ohne weiter darüber nachzudenken, nehme ich die Vase und trage sie aus dem Zimmer.

 

Emma

Ich betrete mein Büro und bin für einen Moment irritiert. Etwas stimmt nicht und ich brauche einige Sekunden bevor ich es verstehe: Der Strauß ist weg. Lediglich der Wasserring auf dem Schreibtisch zeugt davon, dass hier einmal eine Vase stand. Ich werfe meine Handtasche auf den Stuhl, der vor meinem Schreibtisch steht und noch im Mantel laufe ich durch den Gang bis zur Küche. Doch auch hier: Nichts. Nur die Kaffeemaschine blinkt rot vor sich hin, der Kaffeesatzbehälter ist voll.

Ich laufe wieder zurück zu meinem Büro und schaue dabei in jedes Zimmer, vielleicht hat ja einer meiner Kollegen den Strauß mitgenommen? Doch auch hier: Nichts. Ich quäle mich aus meinem Mantel, verheddere mich in den Ärmeln, weil ich inzwischen so wütend bin, dass ich mich nicht aufs Ausziehen konzentrieren kann. Wer nimmt denn bitte so einen Strauß aus einem Büro? Ohne einen Zettel zu hinterlassen? Das ist doch eindeutig Diebstahl! Ich knülle meinen Mantel zusammen und werfe diesen ebenfalls auf den Stuhl. Ich werde noch im nächsten Stockwerk schauen, ob mein Strauß nicht dort steht – die Kollegen kommen oft zum Kaffee vorbei, weil bei uns die bessere Maschine steht. Vielleicht hat einer von ihnen den Strauß genommen oder zumindest gesehen, wer ihn genommen hat.

Ich verlasse mein Büro und laufe zum Aufzug. Die Absätze meiner Pumps knallen auf das Parkett, das Echo hallt in meinen Ohren.

 

Raja

Nur noch zwei Büros, dann habe ich es geschafft. Zwischendurch habe ich kurz mit den Kolleginnen gesprochen, aber viel Zeit haben wir nicht dafür. Wenn wir mit diesem Gebäude fertig sind, wird am Eingang ein Lieferwagen auf uns warten, der uns zum nächsten Auftrag bringt. Nur mich heute nicht, denn nach diesem Gebäude habe ich frei. Das habe ich Amira versprochen – das wir den Tag gemeinsam verbringen. Was wird sie für Augen machen, wenn sie den Strauß sieht! Ich habe ihn vorne auf meinen Putzwagen gepackt und er ist so wunderschön, dass ich kaum die Augen von ihm abwenden kann.

"Was machen Sie mit meinen Blumen? Wollen Sie die etwa wegwerfen? Sind Sie komplett verrückt?" Ich weiß nicht, wo diese Frau auf einmal herkommt – sie steht plötzlich in dem Büro, in dem ich gerade den Schreibtisch abwische und deutet mit ihrem ausgestreckten Arm auf meinen Putzwagen.

"Sind das Ihre Blumen?", frage ich und möchte mich am liebsten im selben Moment ohrfeigen für diese Frage. Natürlich sind das ihre Blumen.

"Ja, das sind meine Blumen. Und ich hätte jetzt gern eine Erklärung, warum die nicht mehr in meinem Büro, sondern auf Ihrem Wagen sind." Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Fußspitze trommelt abwartend auf den Parkettboden.

"Es tut mir leid", sage ich und lege vorsichtshalber den Lappen auf den Schreibtisch. Ich muss mich konzentrieren, wenn ich deutsch spreche. "Ich dachte, der Strauß wurde hier vergessen und da habe ich ihn mitgenommen."

"Sie haben ihn gestohlen", sagt die junge Frau. "Denn wegwerfen wollten Sie ihn nicht, sonst wäre er nicht auf Ihrem Wagen. Sie haben ihn für sich gestohlen und das werde ich Ihrem Chef auch sagen."

Sie reißt den Blumenstrauß aus meinem Wagen und ein paar Blätter fallen zu Boden. Ich komme nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn sie geht bereits davon.

 

Emma

Mein Herz schlägt bis zum Hals, so wütend bin ich. Wie kommt diese Frau dazu, meinen Strauß von meinem Tisch zu nehmen? Sie hat ihn einfach gestohlen! Was hat sie sich dabei gedacht? Dass es nicht rauskommt? Wir sind in einer Anwaltskanzlei, Herrgottnochmal, hier gibt es Kameras in den Treppenhäusern und den Aufzügen – sie hätte diesen riesigen Strauß nie transportieren können, ohne aufzufallen. Klar, dass sie meinen Strauß stehlen muss – als Putzfrau kann sie sich so etwas nicht leisten! Und es wird auch einen Grund, haben, warum sie nur als Putzfrau arbeitet! Vermutlich lebt sie schon in zweiter Generation hier in Deutschland und kann immer noch nicht richtig deutsch. Vermutlich verbietet es ihr Mann, dass sie deutsch lernt und überhaupt einer anderen Arbeit nachgeht. Das hört man ja so oft. Meine Absätze knallen noch lauter aufs Parkett als vorher. Als erstes werde ich eine E-Mail an die Geschäftsleitung schreiben. Dann an das Office Management. Ich werde…

 

Raja

Sie wird mich melden, das weiß ich sofort. Vielleicht wird sie auch die Polizei rufen… Nein, das wird sie nicht tun. Das hier ist Deutschland, sie wird nicht die Polizei rufen, nicht bei so einem Vorfall in einem Büro. Und selbst wenn, muss ich keine Angst haben. Wenn die Polizei in Damaskus ins Krankenhaus kam und einen Patienten ins Polizeigefängnis mitnahm, gab es nur zwei Möglichkeiten: Dieser starb entweder während der Vernehmung oder kurz nach der Entlassung. Ich werde nicht sterben. Ich werde nur meine Arbeit verlieren.

„Bitte!“, rufe ich. „Bitte bleiben Sie stehen!“

Erst habe ich Angst, dass sie mich nicht hört, weil ihre Schuhe so laut auf dem Boden stampfen, aber sie bleibt doch stehen und dreht sich um. Sie sagt kein Wort, taxiert mich von oben bis unten. Ich weiß nicht, warum ich es sage, ich will kein Mitleid, ich will auch diesen verdammten Strauß nicht mehr. Ich will nur nicht von dieser Frau verurteilt werden. Über mich urteilen jeden Tag schon genügend Menschen – über meine Hautfarbe, mein Kopftuch, meinen Akzent, wenn ich deutsch spreche.

„Der Blumenstrauß… Ich stehle nicht, das habe ich noch nie getan. Aber meine Tochter hat Geburtstag, sie wird heute 12 Jahre alt. Alles, was ich für sie habe, ist ein gebrauchter Anorak. Ich dachte, dieser Blumenstrauß wird sowieso weggeworfen. Heute ist Weihnachten, dann sind die Feiertage… Ich dachte, bevor er weggeworfen wird, schenke ich ihn meiner Tochter. Meine Tochter liebt Lilien.“

„Das hier ist eine Anwaltskanzlei. Hier wird immer gearbeitet“, sagt die junge Frau. „Und was Sie getan haben, ist Diebstahl.“

Sie zieht eine Augenbraue hoch und wendet sich ab.

„Ich war nicht immer Putzfrau“, sage ich zu ihrem Rücken. „In Damaskus habe ich als Ärztin gearbeitet. Aber meine Papiere sind in Moria verbrannt, deshalb darf ich hier nicht als Ärztin arbeiten. Ich bin keine Diebin. Ich wollte nur meiner Tochter zum Geburtstag eine Freude machen.“ Ich spüre die Tränen in meiner Kehle, in meinen Augen, aber ich werde nicht weinen. Ich habe nicht geweint als mein Mann verschwand, ich habe nicht geweint als wir unser Zuhause verlassen mussten und ich habe nicht geweint als wir in diesem dreckigen Lager feststeckten. Ich werde auch jetzt nicht weinen. Auch wenn ich tatsächlich eine Diebin bin. Die junge Frau starrt mich an, aber sie sagt nichts mehr.

 

Emma

Sie spricht plötzlich Englisch, ausgezeichnetes Englisch, fehlerfrei, akzentfrei. Sie steht vor mir in diesem viel zu großen rosa Kittel, den die Putzkräfte tragen müssen. Ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt. Die Vase mit dem Strauß wiegt plötzlich mehr als ich tragen kann.

„Ich bin keine Diebin“, sagt sie noch einmal.

Ich will sagen, dass sie meinen Strauß genommen hat und das sehr wohl Diebstahl ist. Aber selbst in meinen Gedanken klingt es lächerlich.

Ich drehe mich wortlos um und lasse sie stehen. Meine Schritte hallen nicht mehr über den Flur, ich bin nicht mehr zu hören.

In meinem Büro stelle ich die Vase auf meinen Tisch, genau auf den Wasserring, der noch blass zu sehen ist. Meine Hände zittern während ich meinen Mantel vom Stuhl nehme und ihn ausschüttele und entknäule. Ich hänge ihn auf, setze mich an meinen Schreibtisch und starte den Laptop. Ich schaue Windows zu wie es quälend langsam startet, mit den Fingern klopfe ich auf dem Tisch. Was ist da eben passiert? Und was bin ich für ein Mensch? Wann bin ich so geworden?

Die Lilien auf meinem Schreibtisch verströmen einen solchen Duft, dass mir übel wird. Ich springe auf und laufe zur Damentoilette, ich schaffe es gerade rechtzeitig.

Als ich von der Toilette komme, steht sie davor. Sie sagt ruhig: „Sie sollten etwas trinken. Am besten einen Kamillentee. Das beruhigt Ihren Magen.“

„Was wollen Sie noch?“, frage ich leise. Mir ist noch immer übel.

Sie hält mir das Tütchen hin, das die Floristen immer an die Blumenstraußverpackungen tackern und womit man die Blumen düngen soll.

„Damit halten die Blumen länger“, sagt sie. „Es wäre so schade um diese wunderbaren Lilien.“

Ich starre das Tütchen an.

„Sie haben Recht“, sagt sie. „Ich hätte den Strauß nicht nehmen dürfen.“

Ich schaue von dem Tütchen zu ihr, sehe die Falten um ihre Augen und den Leberfleck direkt über ihrer Lippe.

„Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten“, sagt sie und lächelt. „As salamu aleykum – Friede sei mit dir.“

 

 

Raja

Sie nimmt das Tütchen nicht also ergreife ich ihre Hand. Ihre Finger sind genauso kalt wie meine. Sanft lege ich das Tütchen mit dem Dünger in ihre Hand.

Meine Schicht ist schon seit ein paar Minuten vorbei und ich weiß nicht, ob ich in drei Tagen noch immer eine Arbeit habe. Es ist mir plötzlich egal, denn ich bin sowieso keine gute Putzfrau. Ich werde eine andere Lösung finden, so wie ich immer eine andere Lösung gefunden habe. Die Welt hat in Syrien weggesehen, die Welt hat nichts gegen das Elend in Moria getan, die Welt wird mir auch hier nicht helfen mit diesem Blumenstrauß und dieser idiotischen Lage, in die ich mich manövriert habe. Aber ich werde mir helfen, daran wird auch eine blonde, deutsche Anwältin nichts ändern.

Ich lasse ihre Hand los. Sie starrt mich noch immer an, aber sie bleibt stumm. Erst nachdem ich mich abgewendet habe und mir den Kittel ausziehe, höre ich ihre leise Stimme: „Es tut mir leid. Frohe Weihnachten.“

Und da weiß ich, dass die Welt vielleicht doch nicht immer wegsieht.

 

 

                                    

 

 


 

Hans

Es ist kurz nach 9 Uhr, das ist selbst an Heilig Abend eine tote Zeit. Richtig rund gehen wird es ab 10 Uhr, wenn den letzten einfällt, dass heute schon Weihnachten ist und sie noch Geschenke brauchen. Oder eine Gans. Oder einen Weihnachtsbaum. Hatte ich alles schon. Deshalb stehe ich mit meinem Taxi jetzt lieber hier vor dem Hotel, da wollen nur Geschäftsleute oder Touristen zum Flughafen oder zum Bahnhof. Ich pfeife „Last Christmas“ mit, das läuft heute schon zum fünften Mal auf Radio Charivari. Mei, es gibt schlechtere Weihnachtslieder. Ich falte den Sportteil der Abendzeitung zusammen und mein Blick fällt auf das Bürogebäude gegenüber. Eine Frau mit Kopftuch kommt eben heraus, sie hat irgendwas rosafarbenes über den Arm hängen. Nur Sekunden später kommt eine andere Frau auf die Straße, sie trägt einen riesigen Blumenstrauß. Jessas, das ist ja ein Monstrum! Die Frau mit dem Blumenstrauß läuft hinter der Frau mit dem Kopftuch hinterher und jetzt… Die beiden reden miteinander. Schad, dass ich nix versteh, das würd' mich jetzt schon interessieren, was die beiden miteinander zu schaffen haben. Die Frau mit dem Kopftuch nimmt den Blumenstrauß, sie wischt sich über die Augen, genau wie die andere Frau. Weinen die beiden etwa? Ich nehm' meine Brille von der Nase und putze sie, vielleicht hilft das. Nachdem ich die Brille wieder aufgesetzt habe, sehe ich, dass sich die beiden umarmen. Die Frau mit dem Blumenstrauß überquert jetzt die Straße und kommt auf mich zu. Wie gut, dass ich der erste in der Taxischlange bin. Auf die Geschichte bin ich wirklich gespannt!