Meer

 

Sie war an der Ostsee gewesen als Vorschulkind und an der Nordsee kurz vor der Pubertät. Dann war sie am Mittelmeer gewesen, da war sie Anfang 20. Sie hatte jedes Mal am Strand gestanden und sich über die kleinen Wellen gefreut, die an Land brausten. Für sie, aufgewachsen in der Mitte des Festlands, zwischen Hügeln und Feldern, war das Meer etwas Besonderes.

Mit Mitte 20 war sie das erste Mal auf einer Insel mitten im Atlantik gewesen. Hier waren die Wellen größer, das Meer lauter, unberechenbarer als an der Ostsee, Nordsee oder Mittelmeer. Sie hatte mit ihrer kleinen Kamera ein Video aufgenommen, weil sie das Geräusch der brechenden Wellen am Strand immer und immer wieder Zuhause hören wollte. Es vergingen Jahre mit Wanderurlauben und Städtetrips und Roadtrips in fernen Ländern, aber das Meer besuchte sie nicht mehr. 

Bis es plötzlich mit 40 einen Urlaub geben musste, bei dem es nur darum ging, sich auszuruhen, nichts zu tun, weil Gliedmaßen nicht mehr so funktionierten, wie sie sollten und Ressourcen geschont werden mussten. Darum ein Ferienhaus am Atlantik, Zugang zum Meer durch einen Pinienwald, der in den heißen Sommertagen duftete und sie erst am Strand wieder das Salz riechen ließ. Sie stand sprachlos in den Dünen, hier, am einsamsten Ort der Welt. Kein Mensch weit und breit, nur das Meer, der Sand und der Himmel. Das Meer brüllte und donnerte, solche Wellen hatte sie noch nie gesehen. Und auch nicht die Geschenke, die es ihr brachte – Muscheln so groß wie ihre Hand, Steine in allen Farben dieser Erde. Das Meer wollte, dass sie kam, dass das sie schwamm, dass sie sich hin- und herwerfen ließ. Aber sie hatte Respekt vor dem Meer und sie wusste, dass sie keine gute Schwimmerin war. Sie beließ es dabei, nur so weit hineinzugehen, dass das Meer sie an der Taille packen konnte und an den Füßen, aber sie blieb stehen. Sie saß stundenlang am Strand und starrte hinaus auf das Dunkelblau, das Hellblau, das Weiß. Hörte stundenlang das Rauschen und Donnern und Fauchen und wusste, dass sie niemals, niemals mehr in ihrem Leben ein anderes Meer sehen wollte.