Höhenangst

 

Höhenangst hatte er schon, da war er noch ein kleiner Junge. Während seine Brüder auf Bäume kletterten, um die Kirschen herunterzuholen, hatte er am Boden Wache gehalten. Nicht immer war die Mutter einverstanden, wenn sie die Kirschen vom Baum aßen – lieber wäre es ihr gewesen, diese wären in Körbe und dann in Einmachgläser gewandert statt in ihre Mägen. Aber das war schon lange her und auf Obstbäume musste er heute nicht mehr klettern. Dafür auf Leitern, doch das bekam er gerade noch so hin. Wenn er sich darauf konzentrierte, dass es nur um die Dachrinne ging, aus der er das Laub holen musste und dabei nicht nach unten schaute, wenn er das Laub warf, dann war es in Ordnung.
Was in aller Welt ihn aber geritten hatte, auf das Dach zu klettern, um nach dem lockeren Dachziegel zu schauen – das begriff selbst er nicht. Denn hier gab es keine Möglichkeit nicht nicht nach unten zu schauen. Er hatte gar keine andere Wahl als zu sehen, wie hoch oben er war (10 Meter) und wie tief es hinunter ging (eben auch: 10 Meter). Er saß rittlings auf dem Dach, die Dachluke in seinem Rücken. Seine Frau versuchte, ihn abzulenken indem sie auf ihn einredete und allerlei hilfreiche Tipps gab. Nicht nach unten schauen – klar, wie sollte das wohl gehen?
„In dem du einfach auf den Schornstein schaust“, sagte sie zu seinem Rücken. „Nur auf den verdammten Schornstein. Und dann rutschst du langsam rückwärts zu mir.“
Aber es war bereits zu spät, er hatte schon nach unten geschaut und sein Herz klopfte so schnell, dass er mit dem Atmen kaum hinterherkam. Ein leichter Wind wehte und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn.
„Du bewegst dich überhaupt nicht“, sagte seine Frau. „Du hattest diese bescheuerte Idee aufs Dach zu klettern, jetzt schau zu, dass du auch wieder runterkommst!“
Es war ja nicht so, dass er nicht wollte – er konnte einfach nicht. War festgefroren auf dem Dach, denn wenn er sich bewegte, dann würde er abstürzen. Und dann war er tot. Das wollte er beides nicht.
„Dann ruf ich jetzt die Feuerwehr“, sagte seine Frau und er hörte sie die Treppe hinab poltern. Die Feuerwehr. Er schwitzte wieder noch mehr. Dann hatte das Dort in der nächsten Woche schön was zum Tratschen. Und er keine Ruhe mehr in der Kneipe.
Er fixierte den Schornstein so wie sie es gesagt hatte. Millimeter für Millimeter rutschte er zurück so lange bis er das Dachfenster im Rücken spürte. Umständlich quälte er sich hinein und als er von der Leiter stieg, sah er seine Frau in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, ein Glas mit Schnaps in der Hand.
„Geht doch“, sagte sie. „Kaum droht man mit der Feuerwehr… Und jetzt geh duschen, du bist nassgeschwitzt. Ich ruf morgen die Dachdecker an.“ Sie reichte ihm das Glas und er gab keine Widerworte.