Oma
Sie war schlimmes gewohnt, so viel stand fest. Den Krieg hatte sie überlebt, den Hunger, die Kälte und die Sehnsucht nach ihrem Vater, der in Russland das deutsche Vaterland verteidigt hatte. Oder wollte er es vergrößern? In jedem Fall war es eine ziemlich dumme Idee gewesen, denn sie hatte nicht nur ihren Vater verloren, sondern auch die Wohnung, in der sie geboren worden war und ihre beste Freundin, denn die hatte es nicht rechtzeitig in den Luftschutzkeller geschafft. Und jetzt war sie 96 Jahre alt und der Krieg war seit 76 Jahren vorbei. Aber die Menschen hatten nichts gelernt. Sie schnaubte wütend. Von wegen intelligente und überlegene Rasse. Sie waren Dummköpfe, alle miteinander. Ließen Menschen im Mittelmeer ertrinken, die auf der Flucht waren. Auf der Flucht so wie sie damals mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder. Sie verprügelten Menschen, die anders aussahen oder einen Davidsstern statt eines Kreuzes an einer Kette um den Hals trugen. Sie lachten junge Menschen aus, die sich dafür einsetzten, dass die Erde auch noch in 96 Jahren ein guter Ort für alle war. Wobei – manchmal war sie sich nicht ganz sicher, ob es nicht besser war, dass sie allesamt ausstarben. Die intelligente, überlegene Krone der Schöpfung, die zwar bis zum Mond fliegen konnte, aber kein Mitgefühl für all die Mitgeschöpfe hatte, die mit ihnen den Planeten bewohnten. Es klingelte an der Tür und sie stützte sich auf ihren Stock, um sich vom Sessel zu erheben.
„Oma, bist du schon fertig?“, fragte Niklas, ihr jüngster Enkel.
„Ich warte nur auf dich“, sagte sie und ging ihm entgegen. Niklas wischte sie die viel zu langen Haare aus den Augen.
„Ich habe dir auch ein Transparent gebastelt“, sagte er. „Mama meint, du sollst dich nicht übernehmen. Ich pass auf dich auf, ok?“
Sie schmunzelte und nahm ihm das Plakat ab. „Omas for future“ stand da. Wenig später reckte sie es stolz auf der Straße in die Luft, inmitten all der Kinder und ihrer Großeltern. Na, vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für die Menschheit auf diesem Planeten.